Kooperation - Maria-Ward-Gymnasium
Das Nachhilfeprojekt - eine Kooperation mit dem Maria-Ward-Gymnasium
"Es fehlt hier an allem”
Bei dem Projekt „Schüler für Schüler” lernen Gymnasiastinnen den Schulalltag mit lernschwachen Kindern und eine andere Welt kennen .
Jedes Kind wird einzeln oder in Kleinstgruppen unterrichtet.
Manche Schüler bleiben nach der Stunde einfach sitzen.
Von Christa Eder
Es dauert lange, bis Robert (alle Namen der Kinder von der Redaktion geändert) diesen einen Satz geschafft hat. Immer wieder verheddert sich der Erstklässler beim Aneinanderreihen der einzelnen Buchstaben, immer wieder muss er noch einmal von vorne beginnen. „Hu, das ist voll schwer”, stöhnt er. Aber er gibt nicht auf und endlich klappt es doch: „Papa sitzt mit Fabian und Franziska beim Frühstück”, liest er und lässt sich erschöpft zurückfallen.
Amelie, seine Nachhilfelehrerin, lobt ihn, dann ist Sonja dran. „Aber nur die Überschrift”, wehrt die Sechsjährige gleich von vorneherein ab. Die drei Wörter „Eine richtige Familie” waren ihr anstrengend genug. „Robert ist dran”, bestimmt sie und blättert im Buch herum. Statt weiterzulesen, springt sie auf, schiebt die Wandtafel rauf und runter. Sie soll wieder an den Tisch kommen, fordert sie Amelie auf. Dreimal, viermal, fünfmal lässt sich Sonja bitten, dann liest sie „Franke” statt „Freitag”, „ohenne” statt „ohne”, „vertix” statt „verreist”. Sie malt den Tisch an, radiert das Gekritzel wieder weg, zwei Minuten später muss sie aufs Klo, nein, doch nicht. Sie findet einen Schlüssel, hebt ihn hoch und ruft: „Seid ihr doof, oder was?”
Wer eine Nachhilfestunde an der Guldeinschule beobachtet hat, kann erahnen, was eine Grundschullehrerin in einer so genannten Brennpunktschule mit überwiegend Kindern aus bildungsfernen Familien jeden Tag erlebt, was es bedeutet 25 Kinder zu unterrichten, von denen die meisten so sind wie Robert und Sonja. Kinder, die sich kaum konzentrieren können, sich von jeder Kleinigkeit ablenken lassen, sich drücken, wenn es anstrengend wird und sich die Zeit zu Hause mit „Fernseher gucken und Nintendo” vertreiben. „Das Schwierigste ist”, sagt Amelie, „dass die Kinder nicht bei der Sache bleiben können.” Dabei sei das heute noch eine gute Stunde gewesen. Manchmal müsse sie die Kinder die ganze Zeit über nur antreiben. Eigentlich, sagt die 15-jährige Gymnasiastin, wollte sie mal Grundschullehrerin werden, „aber jetzt, wo ich sehe, wie anstrengend und nervenaufreibend das alles ist, mache ich vielleicht doch lieber was anderes.”
Amelie ist eine von 37 Schülerinnen des Maria-Ward-Gymnasiums, die im Rahmen des Projekts „Schüler für Schüler” einmal pro Woche ins Westend zur Guldeinschule fährt, um den Kindern Nachhilfe zu geben. Die Idee: Gymnasiasten coachen Grundschüler in Brennpunktschulen. Dabei geht es nicht nur um Nachhilfe, sondern auch um den Erwerb von sozialen Kompetenzen.
Torsten Hartmann, 63, ist Initiator des Projekts. Der ehemalige Ingenieur für Nachrichtentechnik hat 2006 sein Unternehmen verkauft und sich aus dem Berufsleben zurückgezogen. Weil ihm zu Hause aber sehr bald „die Decke auf den Kopf” gefallen sei, habe er eine Aufgabe gesucht und sei über die Freiwilligenmesse ins schulische Ehrenamt „reingeschlittert”. Zwei Jahre lang hat er für die Regierung von Oberbayern Schulen evaluiert und dabei die „unendliche Not” an den Brennpunktschulen gesehen: Den aussichtslosen Kampf der Lehrerinnen, die erzieherischen Defizite von zu Hause aufzufangen, die Sisyphusarbeit bei der Lernstoffvermittlung, die großen Klassen, die Erschöpfungszustände. Die Kinder, denen es an allem fehlt. Sechs-, Siebenjährige, die morgens allein aufstehen, ohne Frühstück zur Schule gehen, den ganzen Tag allein zu Hause sind und erst am Abend ihre Mutter sehen. „Da hat mir das Herz geblutet”, sagt Hartmann und entschließt sich, zu helfen. Drei Mal pro Woche geht er in Schulen und gibt Nachhilfe. Schnell merkt er, dass er allein nichts ausrichtet. Er sucht nach Gleichgesinnten, arbeitslosen Akademikern, die sich ehrenamtlich engagieren wollen. Wochenlang tingelt er durchs Arbeitsamt, hängt Flyer aus. Kein Einziger meldet sich.
Dann kommt er auf die Idee, das Projekt mit Gymnasiasten auf die Beine zu stellen. Beim Maria-Ward-Gymnasium stößt er auf offene Ohren, Schulamt und Schulleitung geben grünes Licht und im Oktober 2008 geht das Projekt „Schüler für Schüler” an den Start. Seitdem übernehmen die Gymnasiastinnen jeden Donnerstagnachmittag das ehrenamtliche Coaching an der Guldeinschule, sogar die Fahrtkosten zahlen sie selbst. Auch Hartmann macht mit. Die Kinder werden einzeln oder in Kleinstgruppen mit zwei oder drei Kindern unterrichtet. Manche, sagt Hartmann, blieben nach der Stunde einfach sitzen. Sie sagen, in der Nachhilfe sei es viel schöner als zu Hause. „Irgendwann bin ich dann nachmittags mit sechs Kindern dagesessen.”
Mehrere Schulen hat Hartmann noch auf der Warteliste, aber es fehlen ihm Freiwillige. Er würde sich wünschen, so ein Projekt staatlich oder städtisch organisieren zu können, aber Hoffnungen macht er sich nicht. Dabei könne es sich die Gesellschaft schlicht nicht mehr leisten, so viele Kinder durch den Rost fallen zu lassen. „Ein Kind ohne Schulabschluss, braucht etwa 60 Jahre Quersubvention, das sind mehr als ein Million Euro. Ich verstehe nicht, warum das ein kleiner Hartmann rechnen kann und ein Politiker nicht”, kritisiert er.
„Schüler für Schüler”, will mehr sein als nur ein Nachhilfeprojekt. Es fördert interkulturelle Kontakte, Gemeinschaft, Integration und kleine Freundschaften. „Die Kinder nennen ihre Nachhilfelehrerinnen „mein Mädchen”, sagt Hartmann. „Das macht mich als Mentor im Hintergrund glücklich. Und ich finde, das wäre doch nachahmenswert!”
Wer das Projekt „Schüler für Schüler” ehrenamtlich unterstützen will, kann sich per Email an Torsten Hartmann wenden: to.hartmann_at_t-online.de .
Einmal pro Woche ist Amelie nur für „ihr Kind” da. Auch wenn das Lernen mühsam ist, die Kinder freuen sich auf die Nachhilfestunden mit den Gymnasiastinnen. Torsten Hartmann würde das Projekt gern flächendeckend ausweiten.